„Friede sei mit Dir“
Er stand souverän wie immer hinter dem Lehrerpult. Ich stand mutmaßlich eingeschüchtert davor. Wie ich dort hingekommen bin, entzieht sich meiner Erinnerung. Ich war auf einmal da. Alle Augen waren auf mich gerichtet und warteten darauf, dass ich meine Hausarbeit abgebe. Das Pamphlet von 12 Seiten hatte ich bereits in der Hand, das zugehörige, gestaltete Heftchen dazu fehlte mir.
„Sie wissen, dass heute der letzte Abgabetermin ist? Ihre Zeit endet in 10 Minuten!“ Da stand er, mager, mit weißem Haar und Äderchen durchzogener Nase. Er war keine Schöhnheit, aber er hatte das gewisse Etwas. Bestimmt nicht für viele – aber für mich.
Mein Herz klopfte, was jedoch nicht an dem verschwundenen Heftchen lag. Sein Blick, mit dem er mich bedachte, fuhr mir durch Mark und Bein. Für Außenstehende mag es nach Schärfe und Unnachgiebigkeit ausgesehen haben, doch ich wusste mehr. Er forderte mich heraus, machte sich einen Spaß daraus, mich zittern zu sehen. Jedoch nicht auf die Art, die ein Lehrer zu seinem Schüler an den Tag legen sollte. Doch das sah außer mir niemand.
„Herr Friede, ich habe es wirklich ausgearbeitet, vermutlich liegt es noch zu Hause. Wenn Sie mich vom Unterricht freistellen, bin ich noch vor dem Pausengang inklusive Heftchen zurück!“ Zugegeben, das war frech. Doch das mochte er, das wusste ich. Kaum jemand traute sich, solche Worte zu ihm zu sagen, der Großteil der Schüler bedachte ihn mit Respekt und Ehrfurcht. Doch ich sah andere Dinge, wenn ich in seine Augen schaute. So stand ich vorm Lehrerpult, hielt seit Minuten seinem strafenden Blick stand und legte ein spitzbübisches Lächeln in meine großen, treuen Kulleraugen, die mit ihm spielten. Aus der Klasse war kein Ton zu hören.
„Alle anderen beginnen das dritte Kapitel zu lesen! Und nun zu Ihnen Frau Krafzik!“ Er bedeutete mir mit seinem Blick ein wenig näher zu kommen und zischte mir ins Ohr „Wenn Du nicht sofort aufhörst mich so anzuschauen..“ Er stockte und ich wartete auf eine Forderung. Doch er beendete den Satz nicht. Sein durchdringender Blick schien bis in mein Innerstes zu fahren. Ich grinste ihn frech an, täuschte mit meinen Lippen einen flüchtigen Kuss an und ging ohne ein weiteres Wort zu meinem Platz.
Auch ich holte das Buch hervor und begann das dritte Kapitel zu lesen. Ich tat zumindest so, denn von Konzentration war keine Spur. Über den Buchrücken behielt ich ihn im Auge, ich wusste er spürte es, auch – oder gerade weil er nicht mehr in meine Richtung schaute.
Als ich am Ende der Stunde, nach völligem Ignorieren seinerseits, das Buch in meiner Tasche verstauen wollte, blickte das verschollen geglaubte Heftchen aus einer Seitentasche hervor. Ich wartete, bis alle das Klassenzimmer verlassen hatten, ging mit durchgestrecktem Rücken und wiegendem Gang auf ihn zu und legte ihm das Heftchen auf den Pult. Ich war mir meiner Ausstrahlung und meines weiblichen Körpers durchaus bewusst. Er griff sich an seinen Kragen, zog ihn ein wenig vom Hals fort und schluckte. Sein Adamsapfel hüpfte dabei. Erwartungsvoll blickte er mich an.
„Danke für Ihr Verständnis, Herr Friede. Ich werde Sie in mein Nachtgebet mit einschließen!“
Friede sei mit dir.
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