Babysitter. Souverän.

18:45 Uhr

Ich betrete frohgestimmt den Ort des Geschehens, das Haus meines Bruders, welches ich heute inklusive Kind 1 und Kind 2 behüten darf. Alles wie immer.

19:30 Uhr

Der Stammhalter lacht mir nochmal fröhlich ins Gesicht, bevor er ins Bett gebracht wird. Ihm hat wohl niemand erzählt, dass er heute alleine mit mir unter einem Dach ist.

20 Uhr

Die Erstgeborene wird nach kurzer Bespaßung meinerseits ebenfalls ins Bett verfrachtet.

20:40 Uhr

Nach letzten Instruktionen, die sich beinahe alle um meinem Wohlergehen drehen, verlassen die Eltern das Haus. Betont lässig. Mein Bruder wird die ersten zwei Bier in schnellen Zügen leeren, dann stellt sich bestimmt eine angenehme luftigleichte Gleichgültigkeit ein.

20:50 Uhr

Die erste Tüte Chips ist längst geöffnet. Es erwarten mich auf der Couch dergleichen drei. Ich drapiere die Babyphones gemütlich um mich und starte von herziger Elektronik bekuschelt den ersten Film.

21:15 Uhr

Die Babyphones starren mich an. Sie erinnern mich auf bizarre Weise an das Spielzeug meiner Kindheit: Tamagotchis. Nun denn, bisher wollte keines gefüttert, bespaßt sauber gemacht oder beschmust werden.

21:56 Uhr

Stoppe voller Misstrauen den Film. Doch die Babyphones scheinen zu funktionieren. Es ist wirklich kein Mucks zu hören.

22:10 Uhr

Die Tüte Chips in meinem Bauch versucht sie zu warnen, aber die zwei weiteren Tüten auf dem Sofa können sie nicht hören. Harrrharrrharrr.

22:36 Uhr

Mein Bauch (oder die zwei Chipstüten darin) sind der Meinung, dass ich die dritte Tüte unberührt lasse.

22:50 Uhr

Nach dem ersten Film schaltet der Rechner in den Ruhezustand. Ui. Wie war nochmal das Passwort? 4711? Nein. 0815? Verwechsle ich nun die Codes des W-LANS und des Rechners? Moment, das Fläschchen des Kleinen, was war das mit 7349, sollte ich es so zubereiten? Und den Rechner starte ich mit 180 Milliliter neu? Mein Kopf dreht sich, dabei habe ich das bereitgestellte Bier noch gar nicht angerührt.

23:00 Uhr

Check aller verfügbaren sozialen Medien durchgeführt. Hier ist es ähnlich ruhig wie in den Zimmern der Kinder.

23:10 Uhr

Ich beuge mich seit mehreren Minuten über Arbeit. Homeoffice in Jogginghose und mit zwei Tüten Chips im Bauch ist ja ganz in Ordnung, dennoch sehne ich gerade beinahe ein dürstendes Kind herbei.

23:14 Uhr

Unheimliche Geräusche in dunklen, fremden Wohnungen sind unheimlich.

23:23 Uhr

Mein Kopf hängt konzentriert über einer Excel-Liste. Neuen Erfahrungswert gesammelt: Man bekommt nur einen mittelschweren Herzinfarkt, wenn der Stammeshalter mal kurz wie ein Schweinchen grunzt.

00:08 Uhr

Ich beschließe die Arbeit zu beenden. Bin schließlich gerade Babysitter, wenn das mal nicht anstrengend genug ist.

0:31 Uhr

Da ich keinen der Filme meiner ellenlangen „Musst Du mal gucken“-Liste bei Sky finde, greife ich zu meinem Buch. Meine „Musst Du mal lesen“-Liste ist nämlich mindestens ebenso lang.

01:00 Uhr

Die Frau des Hauses ist bereits zurück. Ich lege das Buch beiseite, packe meine Siebensachen und rede noch zwei Takte mit meiner Schwägerin.

01:13 Uhr

Ich setze mich ins Auto und fahre in einen blitzbehangenen Himmel. Fernlicht benötige ich erst gar nicht, die Nacht ist in unregelmäßigen, aber schnellen Abständen taghell. Kurz vor der Heimat wird das Auto an der Ampel bereits vom Wind durchgeschüttelt. Erste Äste fliegen über die Straße, Regen setzt ein. Als ich das Auto parke und die Haustür hinter mir schließe, geht es draußen erst so richtig los – das war ja aufregender als der ganze Abend.

Warum war ich nochmal dort? Um Chipsvorräte zu vernichten? Fremdes W-LAN zu nutzen?

– Achja, die Kinder! Na, die waren ja wirklich mal pflegeleicht. Das hat Spaß gemacht. Da bin ich wieder für zu haben!

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